Besuch beim Orgelbauer

Nachricht Dietikon und Osnabrück, 29. Dezember 2022

Waren Sie schon einmal im Heiligen Land?

Besuch beim Orgelbauer Metzler

Ein Text von Kantor Arne Hatje. 
Es war 1988, ich war als junger Chorsänger in die Kantorei St. Jacobi in Hamburg gerade aufgenommen worden und schon ging es auf Konzertreise nach Israel. Wir haben dort alle bedeutenden Stätten der Christenheit besucht, an vielen Stellen auch Konzerte gesungen, Kontakte zu den Menschen geknüpft, die dort leben, Gespräche geführt über Musik, das Judentum, die Gegenwart, die Zukunft, über die Bibel und ihre Historie, ihre Bedeutung, aber auch über eine ganz andere, viel jüngere Vergangenheit...
All das waren und sind für mich unvergessene Momente. Gerade die Aufenthalte am See Genezareth und an kleineren und größeren Orten waren berührend. Bethlehem, Jerusalem, Tel Aviv, Jaffa, Akko. Nie war biblische Geschichte und Historie näher als in diesen Tagen. Ich habe mir vorgestellt, wie sich all die uns in der Bibel überlieferten Geschichten hier wirklich vor Ort zugetragen haben mögen.
Musik ist für mich untrennbar mit diesen Bildern verbunden. Die Worte des Evangelisten im Ohr, so wie sie Johann Sebastian Bach so genial in seiner Johannespassion vertont hat: „Jesus ging über den Bach Kidron, da war ein Garten, darein ging Jesus mit seinen Jüngern.“ Das Gefühl, vielleicht auch genau an dieser Stelle oder in der Nähe davon zu stehen und den Blick über das Kidrontal schweifen zu lassen, an dem Punkt zu sein, an dem all das vor langer Zeit begann, war so stark. Schweiz, Dietikon, nachmittags. Ich stehe in dieser merkwürdig sterilen Stadt vor einem blassgrünen, mehrstöckigen Haus, des- sen Alter für mich schwer zu schätzen ist. Die einfach-hölzernen, weißen Sprossenfenster vermitteln den Charme einer alten Produktionsstätte der fünfziger Jahre. Es wirkt aus der Zeit gefallen - nichts scheint in den letzten 40 Jahren renoviert worden zu sein. Aber alles ist heil, sauber, gepflegt.

Ich werde erwartet, die Tür öffnet sich in ein schlichtes, hölzernes Treppenhaus, ich werde hineingebeten und stehe im Flur, von dem ausgehend sich ein ganzes Universum erschließen wird. Ein ehrwürdiger Geruch von Holz liegt in der Luft. Es ist die Werkstatt der Orgelbaufirma Metzler. Generationen dieser Orgelbauer haben hier bedeutende Instrumente erschaffen. Ich darf mir das alles ansehen, und nicht nur die Räumlichkeiten interessieren mich. Ich bin aus einem ganz bestimmten Grund hier. Nach der freundlichen Begrüßung durch den Orgelbauer Andreas Metzler beginnt die beeindruckende Führung durch die von der Nachmittagssonne durchfluteten Räume.

Die erste Station ist der Montagesaal. Wir stehen vor einem gewaltigen Konstrukt aus massivem, warm schimmernden, hellen Eichenholz von höchster Qualität: Es ist das Gehäuse unserer neuen Orgel. So also wird sie aussehen. Einige Pfeifen sind bereits eingepasst und stehen schon einmal dort, wo sie nachher hingehören - es ist alles noch in der Bauphase, in der angepasst, abgestimmt und kontrolliert wird, ob alles richtig zusammenpasst. Wir sehen auf den nach alter Tradition in stundenlanger Handarbeit gehämmerten Oberflächen der Innenpfeifen die typische Musterung, die bei den Hammerschlägen entsteht, die dem Pfeifenmaterial seine besondere Optik und Eigenschaft gibt.
Wir sehen die mit glühendem Eisen ausgebrannten Löcher der Rasterbretter, die den langen Pfeifen zur Stabilisierung dienen und mit ihrer verkohlten Oberfläche verhindern, dass die Gerb- säure des Eichenholzes das Pfeifenmetall angreift. Die zahllosen Bohrungen in den Windladen, die dem Durchmesser des Pfeifen- fußes angepasst, genau die richtige Menge Luft hindurch lassen, die die jeweilige Pfeife zur Tonerzeugung braucht. Überall sieht man die Liebe zum Detail: sorgsam zusammengefügte Holzverbindungen, millimetergenau gesägt, perfekt gehobelte Flächen, fein gefräste, profilierte Bretter...

An den Wänden lehnen weitere Bauteile. Sämtliche Gehäusetüren sind schon fertig, die Frontplatte, die nachher den Spieltisch umgibt, die Rahmen rechts und links, die nachher die Registerzüge aufnehmen, und die Füllungen, die jetzt noch den Bereich abschließen, der später einmal das winddynamische Werk enthalten wird. Sorgsam aufgereiht von mannshoch bis mehrere Meter hoch die großen, silbrig schimmernden Prospektpfeifen, also jene, die man nachher sehen wird, wenn man als Betrachter auf die Orgel schaut. Überwiegend Metallpfeifen sind zu sehen, aber auch einige aus Holz gefertigte. Wenn man nun glaubt, es sei einfach alles Holz gleicher Art, so irrt man. Für den Bau der einzelnen Holzpfeifen kommen mehrere verschiedene Holzarten (Obsthölzer, Eiche, Tanne etc.) zum Einsatz, eine jede hat ihre zugewiesene Funktion.

Die Planungen, die einem Orgelbau vorausgehen, sind sehr detailliert. Das gesamte Instrument wird bis in das kleinste Detail durchdacht und vorausgeplant. Eine Orgel besitzt kaum vorgefertigte Bauteile (schon gar nicht Gehäuse und die Pfeifen), weil jedes Instrument ein Unikat ist. Die Dimensionen einer Kirchenorgel haben direkt mit der Akustik und den Abmessungen des Kirchenraumes zu tun. Klanglichkeit und Aufbau, die gesamte Konzeption interagiert mit dem Ort, für den die Orgel gebaut wird. Deswegen wird fast jedes Teil genau für nur dieses einzige Instrument angefertigt und passt nicht für eine andere Orgel, eine Massenproduktion zur Kostenminimierung ist quasi ausgeschlossen. Auch die genormten Teile wie Klaviaturen der Manuale und des Pedals werden hier selbst hergestellt und nicht zugekauftalles ist genuin aus der Werkstatt Metzler. Daher kommt auch der hohe Preis, der für eine solche Orgel bezahlt werden muss.

Allen Bauabschnitten liegen Detailzeichnungen zu Grunde und die hier in dieser Werkstatt verwendeten Zeichnungen sind nicht mit einem Computerprogramm, sondern von Hand angefertigt und werden für die jeweiligen Gewerke wie Tischlerei, Pfeifenbauerei, Spieltischbau etc. in den einzelnen Räumen maßstabsgetreu vergrößert aufgehängt.

In dem „Heiligtum“ des Gebäudes wird den Pfeifen das Leben eingehaucht - hier in diesem relativ kleinen Raum steht Orgelbauer Andreas Metzler an der Intonierlade. Das ist im Grunde eine auf das Wesentliche reduzierte kleine Orgel mit einer Tastatur, einer Referenzpfeifenreihe und einer Möglichkeit, neugebaute Pfeifen aufzustellen und klanglich zu bearbeiten. Hier wird jede Pfeife einzeln vorbereitet: auf Tonhöhe und zum Klingen gebracht, vorgestimmt und in Lautstärke, Volumen und Klangfarbe reguliert und mit den benachbarten Pfeifen abgestimmt. Diese Klangabstimmung ist schon eine weitsichtige und notwendige Vorbereitung, damit nachher beim Aufbau in der Kirche Zeit gespart werden kann. Die Möglichkeiten, den Klang zu formen, sind so vielgestaltig, dass hier an dieser Stelle der Platz nicht ausreicht, um es erschöpfend darstellen zu können. Es ist eine hohe Kunst, bei einer Orgel einen besonderen spezifischen Klang zu erzeugen. Intonateure sind Künstler. Ihre Arbeit an den Pfeifen und ihr ausgezeichnetes Hörvermögen gepaart mit einer hohen Klangästhetik prägen den Klang der Orgel maßgeblich. Die künstlerische Fähigkeit und Begabung des Intonateurs sind fast das Wichtigste an einer guten Orgel. Auch eine gut gebaute Orgel muss nicht zwangsweise gut klingen - erst die Kunst des Intonateurs entscheidet, ob eine Orgel nur handwerklich solide und gut gemacht ist oder ob sie darüber hinaus auch noch hervorragend klingt.

Es genügt vielleicht die Vorstellung, dass wirklich jede Pfeife dieser Orgel mehrfach in die Hand genommen wird und feinste Justierungen daran vorgenommen werden, dann wieder verglichen mit den benachbarten Pfeifen und dann wieder erneut angepasst wird und so weiter, bis ein einheitliches Klangbild und der den Metzler-Orgeln eigene, besondere Klang entsteht, den schon seit Generationen Organisten auf der ganzen Welt schätzen.
Der Weg durch die Werkstatt führt uns nun ins Untergeschoss, in dem das Orgelmetall hergestellt wird. Ein Schmelzofen, alte defekte Orgelpfeifen, die wieder eingeschmolzen weiterverwendet werden, Rohzinn, eine alte Waage, um die Zusammensetzung der Legierungen genau abzustimmen, der Gießtisch, auf dem das flüssige Metall zu langen Platten gegossen wird. Eine Maschine, die die auf eine große Trommel gespannten Metallplatten wie an einer Drehbank Span für Span abhobelt, um eine einheitliche Dicke und Oberfläche zu bekommen. An großen langen Tischen werden die Pfeifen zusammengesetzt: aus der Wand ragen lange Eisenkegel und -zylinder, um die herum die Platten zu Röhren geformt werden, aus denen dann die Pfeifenkörper zusammen- gebogen werden um dann abschließend luftdicht verlötet zu werden. Auch die Metallpfeifen bestehen ja aus vielen einzelnen Komponenten, die sorgsam zusammengelötet werden müssen, damit die Pfeife nachher gut klingt. Für die langen Lötnähte wer- den die Pfeifen mit einer speziellen rötlichen Farbe angestrichen, die für das Lötverfahren von Vorteil ist. Nach Fertigstellung der Pfeife muss diese Farbe wieder abgewaschen werden. Dafür gibt es ein großes Becken und eine Fülle von Flaschenbürsten jeder Größe...

Dann verlassen wir das Gebäude, um auf dem Hof die Sägerei und das Holzlager zu besichtigen. Die Hölzer, die für den Orgelbau notwendig sind, stammen fast ausschließlich aus den Eichenwäldern rund um Dietikon. Die ausgewählten Bäume werden zu bestimmten Zeiten geerntet, auf den Firmenhof transportiert und dort stammweise geschält, in unterschiedlichen Brettstärken aufgesägt und überdacht, aber draußen an der frischen Luft mehrere Jahre gelagert, bevor sie weiterverarbeitet werden. Hier beeindrucken wiederum die alten Werkzeuge und Maschinen und Kräne - modernes Equipment ist auch hier nicht vorhanden, weil sich das alte jahrzehntelang bewährt hat.

Wieder in das Gebäude zurückgekehrt betreten wir das Obergeschoss über eine alte, hölzerne Treppe. Hier werden die Kleinteile und Spieltechnik und die Elektrik zusammengeführt. Die Register unserer Orgel werden mit Motoren (sogenannten Magneten) bedient. Diese Magnete werden hier montiert und für ihre Funktion vorbereitet. Hier entsteht der Spieltisch, also der Teil, der die Schnitt- und Verbindungsstelle zwischen Organist und Orgel ist, der präzise wie ein (schweizer!) Uhrwerk funktioniert und aus einer Vielzahl kleiner Schräubchen, Drähte, Winkel, Haken, Filzscheibchen besteht. Daran werden dann die Tastaturen, Registerzüge, die Setzeranlage und vieles andere mehr, was zum Spiel des Instrumentes nötig ist, angeschlossen.

Die letzte Station ist der eigentliche Anfangspunkt, der gedankliche Ursprung unserer Orgel, „der Punkt, an dem all das begann“: Es ist das Contor- das Zeichenbüro. Fotos und Zeichnungen verschiedener Metzler-Orgeln vergangener Generationen, aber auch aktueller Zeiten hängen an den Wänden. Eine große Zeichentafel und ein Schreibtisch mit geneigter Platte beherrschen den Raum. Zusammengerollte Zeichnungen liegen in den Regalen an den Wänden bis weit nach oben über unseren Köpfen. Ein Besprechungstisch in der Mitte des Raumes, ein paar alte Holzstühle, schmucklos effizient, alles aufgeräumt, nichts liegt herum: Die puristische Atmosphäre eines kreativen Ortes. Hier ist die Idee unserer Friedensorgel in eine Gestalt überführt worden, aus ersten Informationen und Besprechungen über mehrere Entwürfe bis zu einem konkretes Instrument erdacht worden. Ein einzigartiges Orgelwerk, wie es so nur in unserer Katharinenkirche stehen und erklingen wird. Bei guter Pflege und liebevollem Umgang dauerhaft und unabhängig von jeder modischen Veränderung, geschaffen für viele Jahrzehnte der kirchenmusikalischen Verkündigung und des Gotteslobes, steht es für die jahrhundertalte Tradition der Kirchenmusik und weist hinaus in die Zukunft.

Waren Sie schon einmal im Heiligen Land?